Hannelore Paflik-Huber
Zeitphänomene in der Arbeit von Frenzi Rigling
In außergewöhnlich direkter Art und Weise findet Frenzi Rigling Bilder für verschiedene Zeitbegriffe, die uns ohne eine Visualisierung nicht anschaulich sind. Im speziellen sind dies das Tagebuch bei Diagramm, 2004-, Vergänglichkeit bei Protokolle, 1996-98, sowie das Wachsen als Metapher für ein lineares Zeitbewusstsein bei Teppich, 2002-.
Das Tagebuch ist für viele das Format Erinnerungen festzuhalten und Ereignisse aufzuzeichnen. Jeden Abend zeichnet Frenzi Rigling auf DIN A4 Blätter in feinen Linien ihre Kleidungsstücke, die sie an dem Tag getragen hat. Sie versieht das Blatt mit dem Wochentag und dem Datum. Sich selbst spart sie aus. Eine Beschreibung des Tages, ihre jeweilige Stimmung, sind alleine an den ausgewählten Kleidungsstücken festzumachen. Was für ein Bild von Frenzi vermittelt sich uns, welche Aussagen können wir treffen, zumal, wenn auch die Charakteristik der Farbe in den Schwarz-Weiß-Zeichnungen wegfällt? Hose, Rock und Kleid wechseln sich ab. Es ist folglich der Verweis auf ein weibliches Wesen. Eine Vorliebe für Muster lässt sich feststellen, ein Hang zur Bluse, oft wird ein Body getragen, etc. Die Person beschreibt sich uns über die Wahl und den Geschmack der Kleidung und natürlich über die Besonderheit zu zeichnen: mit wenigen feinen Strichen werden Umrisse gezeichnet. Über die Kleidergröße, das Körpervolumen, die Haarfarbe etc. erhalten wir keine Informationen. Die einzelnen Kleidungsstücke sind mit einer dünnen Linie wie auf einem unsichtbaren stummen Diener „aufgehängt“, inklusive der Unterwäsche.
Präsentiert werden die einzelnen „Aufzeichnungen“ derart, dass man sie von links nach rechts, Reihe für Reihe lesen kann. So überblickt man, im günstigen Fall auf zwei Wände verteilt, ein Jahr im Leben von Frenzi Rigling.
Der deutsche Philosoph und Begründer der „Vereinigung für ästhetische Forschung“ Max Dessoir (1867-1947) hat das Tagebuch als die „Linie des eigenen Lebens“ bezeichnet.1 Egal in welcher Form oder Gestaltung und Inhaltlichkeit, egal ob es sich dabei um ein privat geführtes Tagebuch oder um eine künstlerische Ausdrucksform handelt, es wird aufgezeichnet, um die Gegenwart in erster Linie für die eigene Zukunft zu bewahren und darüber hinaus einen Existenzbeweis für eine Leserschaft abzulegen.
Seit 2004 legt Frenzi Rigling mit ihren täglichen Aufzeichnungen einen Beweis für ihre Existenz dar, den wir, dank der Reduzierung auf Kleidung, auch für uns als Gedächtnisstützen benutzen können. So sind die „Aufhänger“ für die Künstlerin aufgezeichnete Erinnerungen, die es ihr schnell ermöglichen, sie mit den eigenen Ereignissen des jeweiligen Datums zu verknüpfen. Die Künstlerin kann sich zusätzlich an die Erstellung der einzelnen Zeichnungen gut erinnern. Als Betrachter sucht man als erstes nach Daten, mit denen man selbst eine zeitliche Koppelung vornehmen kann.
Das Aussparen der Person Frenzi, ermöglicht es jedem selbst, die Kleidungsstücke zu „besetzen“ und somit die täglichen Aufzeichnungen mit der eigenen Geschichte zu füllen.
Ein Tagebuch, und so auch Diagramm, sind Existenzbeweise, die im Hier und Jetzt notiert werden, an dem jeweiligen Heute. Die zugrunde liegende Zeiteinheit ist der Tag, der in der Aneinanderreihung zu einem Jahr anwächst. Inzwischen, da jeden Tag seit 2004 ein neues Blatt hinzukommt, wächst die Serie seit vier Jahren zu einem immer umfangreicheren und vollständigeren Nachweis des gesamten Lebens. Auf der einen Seite steht die sich immer wiederholende Zeiteinheit, der Tag, eine überschaubare und beruhigende Zeiteinheit. Auf der anderen Seite ist es die Linearität der Zeit, die einen Anfang hat, die Geburt, oder wie hier der Beginn der Serie, aber nicht vorhersehbar ein Ende mit einplant. Zu jedem Zeitpunkt ist es möglich, die Zeitlinie in die Vergangenheit zu ziehen: ausschnitthaft oder in chronologischer Abfolge. Alle Varianten sind möglich.
Eine überschaubare Zeiteinheit, die auch noch an einen Kunstkontext, nämlich die Dauer einer Ausstellung, gebunden ist, wird in der Arbeit Teppich, 2002- thematisiert. Die Grundlage sind auch hier wieder Kleidungsstücke, dieses Mal jedoch anonymisiert. Für die Dauer einer Ausstellung näht Frenzi Rigling ein Kleidungsstück ans andere. Es entsteht ein Teppich, dessen Koordinaten die Zeitspanne der Ausstellung und die Arbeitszeit der Künstlerin sind. Hier wird Zeit verräumlicht. Wir können anhand des Teppichs, den Zeitraum und die Dauer einer Ausstellung, an der Quadratmeterzahl der Kleidungsstücke im Raum überblicken. Somit ist hier auf anschauliche Art und Weise eine Metapher für gleich mehrere Zeitbegriffe gegeben: für Vergänglichkeit, für Zeitraum, einen persönlichen, der für die Künstlerin von Bedeutung ist, aber auch wieder so individuell besetzbar ist, dass jeder Ausstellungsbesucher sehen kann, wie eine Zeitspanne sich materialisieren lässt. In beiden Beispielen zeigt uns die Künstlerin Manifestationen eines Phänomens, das uns das Allerbekannteste, wie es Edmund Husserl in seinen Vorlesungen zum inneren Zeitbewusstsein 1905 formuliert: „Natürlich, was Zeit ist, wissen wir alle. Sie ist das Allerbekanteste. Sobald wir aber den Versuch machen, uns über das Zeitbewusstsein Rechenschaft zu geben … verwickeln wir uns in die sonderbarsten Schwierigkeiten, Widersprüche, Verworrenheiten“ 2, ist, das aber im Denkprozess mit so vielen Paradoxien belegt ist, dass wir nur schwer eine sprachliche Formulierung für Zeit finden. Frenzi Rigling bietet uns mit ihren Arbeiten gleich mehrere Angebote an, wie Zeit zu sehen, ja gar zu fassen ist. Zum einen ist die Ausgangsbasis immer eine kurze, überschaubare und damit auch beruhigende Zeiteinheit, die kontinuierlich anwächst. Zum anderen kann jede Person sich gleichzeitig an jeder beliebigen Stelle den eigenen Zeitbezug, die eigenen Erinnerungen hervorholen.
1 Max Dessoir, Die Geschichte der Philosophie, Wiesbaden 1925
2 Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Tübingen, 2. Auflage, S. 368